Samstag, 7. Dezember 2013

Leo Tolstoj: Anna Karenina

636 S., Stuttgarter Hausbücherei, 1956 (Bild entspricht nicht der gelesenen Ausgabe!)

Endlich mal wieder ein Klassiker! Ja, ich hab es geschafft und Anna Karenina gelesen. Liest man nur über den Inhalt des Buches, so klingt die Geschichte wie aus einem Groschenroman:

Verheiratete Frau verliebt sich in einen anderen, wird von diesem schwanger, brennt sogar mit ihm durch und lässt ihren Erstgeborenen beim Vater zurück. Und da so etwas kein gutes Ende haben kann (ich denke bei einem Klassiker darf ich das verraten), wirft sie sich am Ende vor den Zug. Zerbrochen ist sie am Druck der Gesellschaft, die sich letztendlich auf ihre große Liebe auswirkte. Sie war nicht mehr frei, geächtet und darunter litt auch ihre Beziehung.

Was aber macht eine "Anna Karenina" zu einem Klassiker und nicht zu einem billigen Heftchenroman?: Tolstoj und seine Kunst der Literatur. Er hat es geschafft, dass diese Geschichte bis heute aktuell ist. Als ich sie las, kamen mir vor allem die Gedanken Annas und die Entwicklung, die ihre Liebe zu Wronskij nahm, sehr aktuell vor. Diese Selbstzweifel, die sie als Mutter hegt, ob es all dies wert ist, ihren Sohn dem Vater zu überlassen, ihren Kummer über ihre Einsamkeit nachdem sie den Schritt gewagt hat, denn Wronskij kann nach wie vor in seinen Kreisen verkehren. Ihm nimmt man seine Beziehung zu Anna nicht übel, ihr aber den Verrat an ihrer Familie.

Sie kann sich nicht mehr öffentlich sehen lassen, während ihr Geliebter durch ihren Unmut und ihre inneren Kämpfe immer mehr aus dem Haus getrieben wird. Ich habe mich, obwohl ich mich nicht in einer solchen Situation befunden habe, dennoch wiedergefunden. Ich konnte nachfühlen, wie die Karenina sich fühlt, warum sie so denkt und was sie antreibt.

Tolstoj hat diese Zeit für die Nachwelt festgehalten, erlebbar gemacht. Seine Sprache ist nicht schnell und zügellos. Langsam entwickelt er die Charaktere und Situationen. Es gibt keine Figur, die er verteufelt, aber auch keine, die er moralisch hervorhebt. So kann sich der Leser selbst ein Bild machen und jeder, der verstrickt ist, hat unser Mitgefühl.

Wir tauchen ein in die Gefühlswelt und leiden mit. Kein Klischee wird bedient, sondern die Realität der damaligen Gesellschaft setzt die Regeln. Man wundert sich zeitweise, wie wenig sich bewegt hat seitdem. Sicher, es ist einfacher, sich scheiden zu lassen. Es ist einfacher, das Sorgerecht für das Kind zu bekommen, schon allein, weil inzwischen die meisten Mütter berufstätig sind. Aber die inneren Auseinandersetzungen, Selbstzweifel und Ängste sind geblieben. Mach ich das Richtige? Was bedeutet Glück für mich und was bin ich bereit, dafür zu opfern?

Das sind zentrale Fragen, die sich jeder auch heute immer wieder stellt. Und ich bin sicher, dass "Anna Karenina" auch in 100 Jahren an seiner Aktualität nichts eingebüßt hat.

Ein Lob auf Tolstoj und ein Lob an die russische Literatur! Ohne sie wäre unsere Kultur um einiges ärmer.
 

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